Zivilverfahren und COVID-19

Gastkommentar von: Paul Oberhammer und Florian Scholz-Berger – Seit alters her führen Pandemien zum viel zitierten „Stillstand der Rechtspflege“. Ein solcher stünde aber in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis zum grundrechtlichen abgesicherten Anspruch auf einen fairen und effizienten Zugang zum Recht.

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I. Zivilverfahren und Grundrechte

Zivilgerichtliche Verfahren sind gewiss nicht das erste Thema, an das man denkt, wenn es um unsere Grundrechte in Zeiten von COVID-19 geht. Verfahrensrecht ist jedoch, so ein bekanntes Sprichwort „gelebtes Verfassungsrecht“: In gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Verfahren kommt es zu jener Begegnung zwischen Staat und Individuum, in der das Individuum zu spüren bekommt, wie es der Staat mit den (Grund-)Rechten hält. Rechtsstaatlichkeit ist ihrem Kern Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns. Ein Verfahren ist daher unter anderem nur dann rechtsstaatlich, wenn sich Bürger und Bürgerinnen anhand des Verfahrensrechts ein Bild davon machen können, was vor Gericht auf sie zukommt. Das bedeutet: das Gericht darf es nicht „irgendwie machen“, „wie es gerade praktisch erscheint“, sondern muss sich ausnahmslos an die Förmlichkeiten halten, die das Verfahrensrecht vorgibt. „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“, sagte der große Jurist Rudolf von Ihering, und das ist auch in COVID-19-Zeiten sehr wahr.

Kritik an rechtlichen Unschärfen und Fehlern der COVID-19-Gesetzgebung wird gerne entgegengehalten, dass es eben schnell gehen musste. Das trifft natürlich zu. Dabei ist freilich zweierlei zu beachten: Zum einen ging es ja bei den meisten Materien durchaus nicht um juristisch komplexe Spezialprobleme. Zum anderen sind Verfassung und Rechtsstaat ja kein „Schönwetterprogramm“ – der Zustand von Verfassung und Rechtsstaat zeigt sich ja gerade dann, wenn sie unter Druck geraten. Schließlich sollte es alarmieren, wenn staatliche Organe in Stresssituationen Rechtsbrüche in Kauf nehmen – sei es aus Überforderung, sei es aus einer grundsätzlichen Geringschätzung für das Recht als „bloße Formalie“.

 

II. Auch in der Krise müssen rechtsstaatliche Verfahren stattfinden

Die COVID-19-Pandemie bzw. die in Reaktion darauf erlassenen Maßnahmen haben – neben vielen anderen Bereichen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens – auch die Zivilgerichte stark betroffen. Von Mitte März bis Ende April war der Gerichtsbetrieb auf ein Mindestmaß eingeschränkt, auch danach gab und gibt es noch besondere Vorschriften für die Kommunikation mit Gerichte und für die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke. Außerdem hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, dass Gerichtsverhandlungen unter bestimmten Voraussetzungen zur Gänze per Videokonferenz abgehalten werden können.

Die österreichische Verfassung gibt an verschiedenen Stellen Regelungen für die Organisation der Gerichtsbarkeit und für den Ablauf von Gerichtsverfahren vor. Da die meisten dieser Regelungen als Grundrechte ausgestaltet sind, hat die einzelne Bürgerin als Partei eines Gerichtsverfahrens  einen Anspruch gegen den Staat, dass diese Regelungen auch eingehalten werden.

Die zentrale Verankerung von Verfahrensgrundrechten findet sich in Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die zum österreichischen Verfassungsrecht gehört und damit insofern auf einer Stufe mit dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) steht; weitere Verfahrensgrundrechte enthalten etwa Art. 90 B-VG und Art. 83 Abs. 2 B-VG.

Art. 6 EMRK bestimmt: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

Personen haben daher u.a. das Recht auf Zugang zu einem Gericht, dass die Sache auch zu hören und darüber zu entscheiden hat („Justizgewährungsanspruch“), darauf, dass das Verfahren insgesamt fair ausgestaltet ist und, dass eine öffentliche mündliche Verhandlung stattfindet. Außerdem besteht ein Recht auf angemessene Verfahrensdauer.

Vor diesem Hintergrund kann man die Frage stellen, inwiefern dabei im Rahmen der Reaktion auf COVID-19 immer ausreichend auf die genannten verfassungsrechtlichen Spielregeln, insbesondere auf Grundrechte Rücksicht genommen wurde. Dieser Frage geht der folgende Beitrag mit Blick auf einige Maßnahmen im Zusammenhang mit zivilgerichtlichen Verfahren diesbezügliche Fragen nach .

III. Verfahrensstillstand, Justizgewährungsanspruch und Recht auf Entscheidung binnen angemessener Frist

In die lange Serie von COVID-19-bedingten Anlassgesetzen, die das österreichische Parlament ab Mitte März 2020 erlassen hat, haben sich auch sehr schnell einige Gesetze eingereiht, die eine direkte Auswirkung auf den Gang (oder vorerst eigentlich: Nicht-Gang) von Gerichtsverfahren hatten.

Schon mit dem 2. COVID-19-Gesetz, das am 21. März im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde, hat der Gesetzgeber ein erstes „COVID-19-Justizbegleitgesetz“ (1. COVID-19-JuBG) eingeführt. Grundstoßrichtung dieses Gesetzes war es, wie schon eingangs gesagt, den Gerichtsbetrieb weitgehend zum Stillstand zu bringen bzw. auf das nötigste einzuschränken. Dadurch sollte die Ansteckungsgefahr einerseits durch die Reduktion von Sozialkontakte vor Gericht sowie durch die Vermeidung etwa von Terminen mit dem eigenen Anwalt reduziert werden. Zusätzlich ging der Gesetzgeber wohl auch davon aus, dass vielen Menschen aufgrund der allgemeinen Einschränkungen des öffentlichen Lebens auch einfach die Möglichkeit fehlen würde, sich z.B. rechtzeitig einen Anwalt für die Erhebung einer Klage zu suchen oder mit ihrer Anwältin ein Rechtsmittel gegen eine bereits ergangene Gerichtsentscheidung vorzubereiten.

Der Gesetzgeber ordnete daher an, dass prozessrechtliche Fristen (wie eben z.B. Rechtsmittelfristen), die bei Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht abgelaufen waren nach dem 30. April neu zu laufen beginnen sollten und das Fristen für die Anrufung eines Gerichts (wie z.B. die Verjährung oder die Frist für die Erhebung einer Besitzstörungsklage) im selben Zeitraum nicht weiterlaufen sollten. Ausnahmen bestanden nur für ganz wenige Verfahrensarten die besonders dringend sind, weil sie zur Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen dienen. Wenn in anderen Rechtssachen der Fortlauf des Verfahrens aufgrund individueller Umstände besonders dringen erschien (etwa wegen einer Gefahr für Leib und Leben) konnte das jeweilige Gericht aber nach Durchführung einer Interessenabwägung auch eine individuelle Ausnahme anordnen. Für den genannten Zeitraum sah das Gesetz in § 3 außerdem vor, dass generell keine mündlichen Verhandlungen stattfinden sollten, Ausnahmen galten wiederum nur in besonders dringenden Fällen.

Ein solcher, ca. eineinhalb Monate dauernder weitgehender Stillstand der Justiz ist natürlich nicht unproblematisch, weil dadurch viele Prozesse länger gedauert haben, und der dadurch erzeugte Rückstau auch dafür gesorgt hat, dass ab Mai eingebrachte Klagen wohl langsamer behandelt werden als sonst. All das wird natürlich auch dadurch verschärft, dass die österreichische Justiz, die chronisch unterfinanziert und mit zu wenig Personal ausgestattet ist, auch vor der Krise schon an der Belastungsgrenze gearbeitet hat. Immerhin wurde aber durch die Festschreibung von Ausnahmen dafür gesorgt, dass in dringenden Fällen Verfahren fortgeführt werden konnten. Das war deswegen besonders notwendig, da es Fälle gibt (wie z.B. einstweilige Verfügungen), in denen eine Entscheidung, die erst mit sechswöchiger Verspätung käme, für die Parteien de facto wertlos wäre. In solchen Fällen hätte eine Untätigkeit des Gerichts nicht nur das Recht auf Entscheidung binnen angemessener Frist beeinträchtigt, sondern den ebenso in Art. 6 EMRK verankerten effektiven Zugang zu einem Gericht verwehrt. Der „Zugang zum Recht“ besteht nämlich nicht nur darin, dass man eine Klage erheben kann und irgendwann eine Entscheidung bekommt, sondern er muss angesichts der Lage des Falles insgesamt auch effektiv sein.

IV. COVID-19 und das Recht auf eine öffentliche Verhandlung

Sowohl Art. 90 B-VG als auch Art. 6 EMRK schreiben fest, dass in gerichtlichen Verfahren öffentliche Verhandlungen stattzufinden haben. Öffentlich heißt in diesem Zusammenhang, dass jeder und jede zur Verhandlung kommen und sich ein Bild von deren rechtmäßigen und fairen Ablauf machen kann. Dadurch soll insgesamt zu einem faireren Verfahren beigetragen, die Unabhängigkeit der Justiz gefördert und das Vertrauen in die Rechtsprechung gestärkt werden: „Not only must Justice be done; it must also be seen to be done.“

Natürlich kommt in diesem Zusammenhang den Medien eine ganz besondere Bedeutung zu. In Österreich sind zwar keine Ton- und Videoaufnahmen oder gar -übertragungen von Gerichtsverhandlungen erlaubt, die Inhalte von Verhandlungen werden aber häufig dadurch öffentlich gemacht, dass anwesende Medienvertreterinnen darüber berichten. Trotzdem würde  es weder der verfassungsrechtlichen noch nach der einfachgesetzlichen Rechtslage nach § 171 der Zivilprozessordnung entsprechend nur Medienvertreter zur Verhandlung zuzulassen. Alle unbewaffneten, erwachsenen Personen, bei denen kein besonderer sachlicher Grund für eine Abweisung besteht (etwa weil sie sich ungebührlich verhalten, oder in Zeiten wie diesen wohl auch, weil Sie Symptome einer COVID-19-Erkrkankung zeigen), müssen – natürlich nach Maßgabe des verfügbaren Platzes – in den Verhandlungssaal gelassen werden.

Der Schutz vor einer ansteckenden Erkrankung ist nirgends explizit als Grund für einen Ausschluss der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen vorgesehen. Grundsätzlich müssen daher auch in Zeiten der Epidemie bzw. Pandemie Gerichtsverhandlungen – sofern sie überhaupt abgehalten werden (s. oben III) öffentlich stattfinden. In extremen Sonderfällen (z.B. weil in einer bestimmten Region sich Ansteckungen häufen und im Zuge des Verhandlungsbesuchs deswegen davon ausgegangen werden muss, dass es zu einer großflächigen Weiterverbreitung der Krankheit kommt), kann ein Ausschluss der Öffentlichkeit unter Umständen ausnahmsweise gerechtfertigt sein, da sonst die sowohl in Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch § 172 ZPO erwähnte „öffentliche Ordnung“ gefährdet sein könnte. Die Regel wird dies aber nicht sein und auch im März und April 2020 nicht gewesen sein. Dies wird in der Zukunft auch bei der Gestaltung allfälliger Ausgangsbeschränkungen, Betretungsverbote etc. zu beachten sein – wenn und soweit Gerichtsverhandlungen abgehalten werden, muss auch grundsätzlich die öffentliche Zugänglichkeit gewahrt werden, da sonst das Grundrecht auf eine öffentliche Verhandlung verletzt werden könnte.

Zulässig ist es aber, wie oben bereits angedeutet, wenn Personen mit Krankheitssymptomen vom Besuch einer Verhandlung ausgeschlossen werden. Das Gericht kann auch die Kapazitäten von Verhandlungssälen entsprechend reduzieren, um Mindestabstände zu gewährleisten sowie etwa das Tragen von Mund- und Nasenschutz sowie bestimmte Desinfektionsmaßnahmen vorschreiben (soweit derartiges nicht ohnehin bereits durch die Gesundheitsbehörde passiert). Wenn die räumlichen Verhältnisse im Verhandlungssaal sehr beengt sind, wird es in Ausnahmefällen auch möglich sein, die Öffentlichkeit nur per Videoübertragung in einen Nebenraum zu beteiligen.

Der Öffentlichkeitsgrundsatz wird auch dann nicht außer Kraft gesetzt, wenn eine Verhandlung per Videokonferenz durchgeführt wird (siehe unten VII.). Auch in diesem Fall hat das Gericht die Verhandlung aus einem öffentlich zugänglichen Verhandlungsraum im Gerichtsgebäude durchzuführen und so viele Zuhörer einzulassen, wie die räumlichen Verhältnisse unter Beachtung der entsprechenden Gesundheitsschutzmaßnahmen zulassen. Den anwesenden Personen ist natürlich auch zu ermöglichen, dass sie der Verhandlung entsprechend folgen können. Denkbar, aber nach der derzeitigen Rechtslage wohl nicht möglich, wäre es auch, die Öffentlichkeit an der Verhandlungs-Videokonferenz als Zuschauer teilnehmen zu lassen oder diese ins Internet zu streamen.

Abschließend ist aber nochmals auf einen wichtigen Aspekt hinzuweisen: Das Grundrecht auf eine öffentliche Verhandlung schützt zwar gewiss Allgemeininteressen (nämlich z.B. die Unabhängigkeit der Justiz und das Vertrauen in die Rechtspflege), es ist aber nach herrschender, aber durchaus fragwürdiger Auffassung ein Recht der Parteien. Deswegen können sich einzelne Bürgerinnen, denen die Teilnahme an einer Verhandlung durch den Richter oder die Sicherheitsmitarbeiterinnen am Eingang des Gerichtes verwehrt wurde, dagegen selbst nicht zur Wehr setzen.

V. Recht auf den gesetzlichen Richter und der „Verzicht“ auf die Ladung von Laienrichtern in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit

Gemäß §§ 10 und 11 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes (ASGG) wird die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit in erster Instanz durch Dreiersenate ausgeübt, denen neben dem vorsitzführenden Berufsrichter zwei fachkundige Laienrichterinnen anzugehören haben. In der Regel hat je eine dieser Laienrichterinnen dem Kreis der Arbeitgeberinnen und eine dem der Arbeitnehmer anzugehören. Der zuständige Berufsrichter als Vorsitzende muss die fachkundigen Laienrichterinnen zu den Verhandlungen laden. Einzelne Verhandlungen können ausnahmsweise dann ohne Laienrichter stattfinden, wenn zumindest einer von ihnen trotz Ladung nicht erschienen ist und kurzfristig kein Ersatz zur Stelle ist und beide Parteien dieser Vorgehensweise ausdrücklich zustimmen (§ 11b ASGG). Das Gesetz sieht aber insbesondere keine Ausnahme von dem Grundsatz vor, dass Laienrichter geladen werden müssen.

Trotzdem sind österreichweit manche Gerichte in den letzten Monaten offenbar dazu übergegangen, unter Verweisung auf den Gesundheitsschutz keine Laienrichter zu laden. Es scheint in diesem Zusammenhang bei den betreffenden Gerichten üblich geworden zu sein, den Parteien bzw. ihren Vertretern anzukündigen, dass keine Laienrichter geladen werden sollen, sofern die Parteien nicht binnen einer gewissen Frist bekannt geben, dass sie nicht auf die Beiziehung von Laienrichtern verzichten möchten. Für diesen Fall wird in den Raum gestellt, dass die Verhandlung erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden könne.

Dieses Vorgehen ist mehr als bedenklich, weil es in auffallender Weise dem Gesetz widerspricht. Eine mangelhafte Besetzung des Gerichts, wozu das Fehlen von gesetzlich vorgesehen Laienrichterinnen gehört, ist ein besonders gravierender Mangel des Verfahrens (das Gesetz spricht von „Nichtigkeit“), der von einem Rechtsmittelgericht unabhängig von einer allfälligen Auswirkung auf das Verfahrensergebnis wahrgenommen werden kann und zur Aufhebung und Wiederholung des Verfahrens führt. Eine Wahrnehmung durch das Rechtsmittelgericht ist zwar dann ausgeschlossen, wenn sich die Parteien, sofern sie durch Rechtsanwältinnen oder sonstige im Gesetz (§ 40 ASGG) genannte besonders qualifizierte Personen vertreten sind, auf die mündliche Verhandlung vor dem falsch besetzten Gericht einlassen ohne dies zu rügen. Vorab können die Parteien aber sicherlich nicht – schon gar nicht stillschweigend – auf die ordnungsgemäße Gerichtsbesetzung verzichten. Richter müssen außerdem in jedem Fall darauf achten, das Verfahren gesetzesgemäß durchzuführen und dürfen nicht absichtlich grobe Verfahrensfehler begehen und darauf hoffen, dass die Parteien diese stillschweigend über sich ergehen lassen und es so zu einer Heilung der Nichtigkeit kommt.

Dies ist in den hier geschilderten Konstellationen umso bedeutender, da das österreichische B-VG in Artikel 83 Abs. 2 ausdrücklich anordnet: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden“. Die Parteien haben damit ein verfassungsgesetzlich abgesichertes (Grund-)Recht darauf, dass ihre Sache durch das gesetzlich vorgesehene Entscheidungsorgan entschieden wird, dazu gehört auch die Einhaltung der korrekten Gerichtsbesetzung (Grundrecht auf den gesetzlichen Richter). Soweit einzelne Gerichte sich der geschilderten Praxis bedienen, ist dies also auch aus grundrechtlicher Sicht verfehlt.    

VI. Recht auf Gehör durch das Gericht und Einwurf von gerichtlichen Schriftstücken in den Briefkasten

Bekanntlich müssen Klagen und andere wichtige gerichtliche Schriftstücke normalerweise nach den Regeln des Zustellgesetzes als Rückscheinbrief (RSb)) zugestellt werden. (Nur noch in ganz seltenen Fällen muss heutzutage eine eigenhändige Zustellung per RSa-Brief erfolgen, dann entfällt die in der Folge beschriebene Möglichkeit der Zustellung an die Ersatzempfängerin).

Die Sendung darf dann nur an die Person, an die die Sendung adressiert ist (Empfänger) oder an eine andere erwachsene Person, die an derselben Abgabestelle wohnt wie der Empfänger oder deren Arbeitnehmerin ist (Ersatzempfängerin) übergeben werden. Wird der Empfänger nicht angetroffen und ist auch keine Ersatzzustellung möglich, muss die Sendung bei der zuständigen Geschäftsstelle der Post hinterlegt werden und der Empfänger ist schriftlich (in der Regel durch Einwurf der Hinterlegungsbestätigung in den Postkasten) zu verständigen. Mit dem Tag, ab dem das Dokument zur Abholung bereitgehalten wird, gilt es an den Empfänger zugestellt, es sei denn, es ergibt sich, dass er wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte.

Diese komplizierten scheinenden Regelungen dienen vor allem dazu, dass möglichst sichergestellt wird, dass Bürgerinnen von gerichtlichen Schriftstücken, die ihnen zugestellt werden, auch Kenntnis erlangen können. Die Zustellung derartiger Schriftstücke löst nämlich sehr oft Fristen aus, bei deren Versäumnis gravierende Nachteile drohen.

Wenn z.B. ein Geldbetrag von bis zu 75.000 Euro eingeklagt ist, erlässt das Gericht normalerweise gleich nach Eingang der Klage einen sogenannten Zahlungsbefehl an die beklagte Partei und stellt ihr diesen zu. Wenn die beklagte Partei den Anspruch bestreiten möchte, muss sie innerhalb von vier Wochen ab Zustellung bei Gericht einen Einspruch erheben. Nur wenn dies rechtzeitig geschieht, leitet das Gericht das Verfahren in der Sache ein und prüft, ob der von der klagenden Partei behauptete Anspruch wirklich besteht. Wird kein rechtzeitiger Einspruch erhoben, wir der Zahlungsbefehl rechtskräftig und die beklagte Partei hat keine Möglichkeit mehr sich zu wehren – auch wenn die Klage eigentlich unbegründet war. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass die beklagte Partei auch die Möglichkeit hat von der Zustellung zu erfahren und sich rechtzeitig zur Wehr zu setzen und Argumente gegen den von der beklagten Partei behaupteten Anspruch vor Gericht vorbringen zu können. Verfassungsgesetzlich wird dies durch den in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt: Zu einem fairen Verfahren gehört es dazu, dass beide Seiten gleichermaßen ihren Standpunkt vor Gericht vortragen können.

Vor dem beschriebenen Hintergrund erscheint es problematisch, dass der österreichische Gesetzgeber im Zuge der COVID-19-Maßnahmen auch besondere Regelungen im Zustellgesetz erlassen hat. Nach § 26a Zustellgesetz, der bis 30. Juni 2020 in Kraft war, konnten Zustellungen auch dadurch geschehen, dass das Dokument einfach in den Briefkasten der Empfängerin eingeworfen wird; durch den Einwurf war die Zustellung – außer die Empfängerin konnte wegen Abwesenheit nicht rechtzeitig von der Zustellung Kenntnis erlangen – bewirkt und konnte daher auch allfällige Fristenläufe auslösen. Das Zustellorgan musste also nicht einmal versuchen die Sendung an eine (Ersatz-)Empfängerin zuzustellen.

Als Ausgleich sah das Gesetz zwar vor, dass, „soweit dies ohne Gefährdung der Gesundheit des Zustellers möglich ist, […] der Empfänger durch schriftliche, mündliche oder telefonische Mitteilung an ihn selbst oder an Personen, von denen angenommen werden kann, dass sie mit dem Empfänger in Verbindung treten können, von der Zustellung zu verständigen“ war. Durch diese reichlich schwammige Anordnung  war nur unzulänglich sichergestellt, dass die Empfängerin von einer an sie bewirkten Zustellung rechtzeitig erfahren würde. Immerhin waren auch alle Österreicherinnen im März und April aufgefordert, in der Wohnung zu bleiben, weshalb vielleicht manche deshalb (oder schlicht aus Furcht) nicht regelmäßig zum Hauspostkasten gegangen sein werden. Wer ohne grobes Verschulden eine Frist versäumt – z.B. weil er von einer Zustellung nichts wissen konnte – kann zwar eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen und damit eine Chance bekommen, die versäumte Handlung nachzuholen, aber auch damit sind nicht alle Nachteile ausgeglichen die potentiell durch die eher unausgegorene Zustellregel entstehen konnten.

VII. Videoverhandlung und Zugang zum Recht

Anlässlich der Pandemie hat der Gesetzgeber – befristet bis 31.12.2020 – auch die Abhaltung von Gerichtsverhandlungen und gerichtlichen Anhörungen per Videokonferenz erlaubt. Normalerweise sieht § 277 ZPO den Einsatz von Videokonferenztechnologie nur für einzelne Beweisaufnahmen (z.B. Zeugenvernehmungen) und auch nur ausnahmsweise vor, die Parteien und insbesondere ihre Anwältinnen müssen aber in jedem Fall mit dem Richter im Verhandlungsraum anwesend sein und können sich nicht über Videokonferenz zuschalten lassen.

§ 3 1. COVID-19-JuBG erlaubt nun sehr weitgehend die Zuschaltung auch der Parteien und aller sonstiger Verfahrensbeteiligter (außer dem Richter) per Videokonferenz. Die momentan maßgebliche Rechtslage (die, wie gesagt, nach derzeitigem Stand bis Jahresende 2020 gelten soll) ist seit 6.5.2020 in Kraft und sieht die Videoverhandlung grundsätzlich als echte Alternative zur Verhandlung unter Anwesenden vor.

Das Gericht kann die Verhandlung per Videokonferenz anordnen, wenn er es aufgrund der räumlichen Situation (z.B. kein ausreichend großer Verhandlungssaal verfügbar), oder angesichts des regionalen Infektionsgeschehens zu einem gegebenen Zeitpunkt für angebracht erachtet. Die Parteien müssen dieser Art der Verhandlungsführung aber zustimmen, wobei die Zustimmung als erteilt gilt, soweit sich die Parteien nicht innerhalb einer vom Gericht festgesetzten angemessenen Frist dagegen aussprechen.

Eine Ausnahme vom Zustimmungserfordernis gilt nur für Anhörungen und mündliche Verhandlungen in Unterbringungs-, Heimaufenthalts- und Erwachsenenschutzsachen sowie in Verfahren nach dem Tuberkulosegesetz und dem Epidemiegesetz 1950, wenn sie außerhalb der von der Justizverwaltung zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten durchzuführen wären. Dies hat der Gesetzgeber damit begründet, dass in solchen Verfahren (in denen Anhörungen und Verhandlungen etwa in Pflegeheimen, Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen stattfinden), die Justizverwaltung keinen Einfluss auf die Corona-gerechte Ausgestaltung der Raumsituation habe. Ebenfalls ohne Zustimmung der Parteien per Videokonferenz stattfinden können „Tagsatzungen, Verhandlungen, Einvernehmungen, Gläubigerversammlungen und Gläubigerausschusssitzungen in Exekutions- und Insolvenzverfahren und solche, auf die die Verfahrensbestimmungen der EO und IO anzuwenden sind“.

Wenn sich das Gericht gegen die Durchführung per Videokonferenz entscheidet oder dieser Weg der Durchführung an der mangelnden Zustimmung der Parteien scheitert, muss die Verhandlung auf normale Wesie unter Anwesenden stattfinden, und es liegt an Gericht und Justizverwaltung für die Einhaltung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zu sorgen. Die Pandemie ist – anders als nach den Regeln die bis Ende April gegolten haben (siehe oben III.) – nach dem Gesetz kein Grund mehr, eine Verhandlung nicht stattfinden zu lassen.

Der Gesetzgeber hat aber für Präsenzverhandlungen das Problem gesehen, dass es für Angehörige besonderer Risikogruppen und all jene, die mit solchen Personen in notwendigem privaten oder beruflichen Kontakt stehen, unzumutbar sei, zur Teilnahme an einer solchen Verhandlung gezwungen zu sein. Daher hat er für diese Personengruppen in § 3 Abs. 3 1. COVID-19-JuBG die Möglichkeit vorgesehen, die Zuschaltung per Videokonferenz (unabhängig von der Zustimmung aller Parteien!) zu beantragen; wird die „erhöhte Gesundheitsgefährdung durch COVID-19“ bescheinigt, ist diesem Antrag stattzugeben. Bescheinigt eine Zeugin oder eine vertretene Partei, die einvernommenen werden soll, außerdem noch, dass ihr keine „geeigneten technischen Kommunikationsmittel“ zur Verfügung stehen, ist anstatt der Zuschaltung per Videokonferenz von der Einvernahme dieser Person „die vorläufige Abstandnahme“ von der jeweiligen Einvernahme zu verfügen; bei einer unvertretenen Partei ist in einem solchen Fall die ganze Verhandlung zu vertagen.

Der Zeitpunkt, auf den die Einvernahme bzw., im Fall der Vertagung, die ganze Verhandlung zu verlegen ist, wird sich daran zu orientieren haben, dass die genannten Regeln nur bis 31.12.2020 anwendbar sind; allerdings werden wohl nicht alle derart verschobenen Einvernahmen und Verhandlungen gleich im Jänner 2021 stattfinden können. Durch diesen Mechanismus kann es daher zu mehrmonatigen Verzögerungen von Verhandlungen kommen. Aus Perspektive des in Art. 6 EMRK verbürgten Zugangs zum Recht und vor allem des Anspruchs auf Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist ist dies für die betroffene Gegenpartei (oder im Falle, dass sich ein Zeuge auf die Gesundheitsgefährdung beruft: beide Parteien) problematisch, da die Effektivität des ihnen zu gewährenden Rechtsschutzes untergraben.

Grundsätzlich ist es natürlich hinzunehmen, wenn der Gesetzgeber Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz besonders gefährdeter Personen trifft. Es ist aber hier auch genau darauf zu achten, dass die Verfahrens(grund)rechte der betroffenen Parteien gewahrt werden. Angesichts von Art. 6 EMRK ist es daher wichtig, dass den Parteien bzw. der Gegenpartei Gehör zu der Frage gewährt wird, ob die Voraussetzungen des § 3 Abs 3 1. COVID-19-JuBG vorliegen. Ein einseitiges Bescheinigungsverfahren, in dem nur die Person vorbringen erstatten kann, die sich auf diese Bestimmung beruft, wird mit diesen Grundsätzen sicherlich nicht im Einklang stehen.

Problematisch  ist es daher, dass die Gesetzesmaterialien offenbar davon ausgehen, dass die Vorlage eines COVID-19-Risiko-Attestes in der Regel genügen wird. Ein solches Attest ist von einem Arzt ausgestellt und muss – da es ja ursprünglich für die Vorlage bei der Arbeitgeberin gedacht ist – nicht einmal eine Diagnose enthalten und schon gar nicht begründet sein (§ 735 Abs. 2 ASVG; § 258 Abs. 2 B-KUVG). Das Gericht ist daher sicherlich nicht an das Vorliegen eines solchen Attestes gebunden, und die Frage der Zugehörigkeit zur Risikogruppe muss jedenfalls auch vom Gegner hinterfragt werden können.

Das Gesetz nimmt hier allerdings eine sehr bedenkliche Einschränkung bzw. Ungleichverteilung des Gehörs und damit der von Art. 6 EMRK verbürgten prozessualen „Waffengleichheit“ vor, wenn es anordnet, dass gegen eine Entscheidung mit der die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 1. COVID-19-JuBG bejaht, und deshalb die Videozuschaltung, die vorläufige Abstandnahme von der Vernehmung oder die Vertagung angeordnet wird, kein Rechtsmittel möglich ist, während ein Rechtsmittel gegen eine abweisende Entscheidung aufschiebende Wirkung hat. (Letzteres leuchtet zwar insofern ein, als eine Rechtsmittelentscheidung ohne aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels für die betroffene Person oft zu spät kommen könnte – sie müsste sich ja möglicherweise in Zwischenzeit schon der Gefahr einer Verhandlungssituation aussetzen, während das Rechtsmittelgericht im Nachhinein entscheiden könnte, dass ihr Antrag gerechtfertigt war. Diese Regelung birgt aber natürlich auch Potential für unredliche Verzögerungstaktiken).

Abgesehen von diesen Sonderkonstellation bergen Videoverhandlungen aus der Perspektive des Zugangs zum Recht weitere potentielle Probleme. Gewissermaßen eine „Sollbruchstelle“ ist etwa, dass Personen von solchen Verhandlungen ausgeschlossenen sind, die keinen Zugang zu entsprechender technischer Ausstattung haben. Diese Problem ist durch die vorliegenden Regelungen allerdings dadurch stark abgemildert, dass Parteien grundsätzlich der Durchführung per Videokonferenz zustimmen müssen, und dass die Risikogruppenregelung des § 3 Abs. 3 1. COVID-19-JuBG für Parteien und Zeugen die Möglichkeit enthält, auf die mangelnde technische Ausstattung zu verweisen, während (nur) bei sozusagen professionelle Verfahrensteilnehmerinnen wie Anwältinnen, Sachverständigen und Dolmetschern die entsprechende technische Ausstattung vorausgesetzt wird.

Auch in Exekutions- und Insolvenzsachen, wo ja Tagsatzungen, Verhandlungen, Einvernehmungen, Gläubigerversammlungen und Gläubigerausschusssitzungen auch ohne Zustimmung der Parteien per Videokonferenz abgehalten werden dürfen, sieht § 3 Abs. 4 1. COVID-19-JuBG vor, dass die zu vernehmenden oder teilnahmeberechtigten Personen binnen einer Woche ab Zustellung der Ladung bescheinigen können, dass sie nicht über die technischen Kommunikationsmittel zur Wort- und Bildübertragung verfügen –  mit der Konsequenz, dass die Durchführung per Videokonferenz ausscheidet.

Übrig bleiben insofern nur die oben erwähnten Verfahren in Unterbringungs-, Heimaufenthalts- und Erwachsenenschutzsachen sowie nach dem Tuberkulosegesetz und dem Epidemiegesetz 1950, wo eine Abhaltung von Anhörungen und Verhandlungen ohne Zustimmung der Parteien möglich ist, und das Gesetz nichts weiter über die Frage der technischen Voraussetzungen sagt. In derartigen Verfahren, die allesamt unter das Außerstreitgesetz fallen, hat aber jedenfalls das Gericht dafür zu sorgen, dass die Verhandlung bzw. Anhörung rechtzeitig stattfinden kann. Wenn in der jeweiligen Einrichtung bzw. bei der betroffenen Person keine entsprechenden technischen Mittel vorhanden sind, wird daher die Verhandlung bzw. Anhörung unter Anwesenden stattfinden müssen.

Abgesehen von diesen besonderen Problemfeldern ist die Durchführung von Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz – insbesondere, wenn hierfür nicht professionelle Videokonferenzanlagen sondern Videochatprogramme wie Zoom und Skype in Verbindung mit handelsüblichen Laptops oder in Extremfällen sogar Smartphones verwendet werden – insgesamt nur ein schlechter Ersatz für eine „echte“ Verhandlung unter Anwesenden. Insbesondere, wenn zu strittigen Tatsachenfragen Zeuginnen vernommen werden müssen oder sonst strittige Aspekte zu erörtern sind, bekommt das Gericht über Video tendenziell nur einen sehr schlechten Eindruck von vernommenen Personen, und auch die Parteien können ihr Fragerecht und damit ihr rechtliches Gehör möglicherweise nicht genauso effizient ausüben. Außerdem besteht gerade bei der Einvernahme von Zeuginnen das Risiko, dass sich hinter der Kamera Personen im selben Raum befinden, die die Zeugin beeinflussen. Insofern ist es daher jedenfalls gut, dass der Gesetzgeber die nunmehrigen Regelungen zur Videokonferenz bis Jahresende 2020 befristet hat. Aus den Notmaßnahmen aufgrund der Pandemie darf auch vor Gericht kein Dauerzustand werden; auch vor Gericht ist darauf zu hoffen, dass wir sobald wie möglich wieder alle von Angesicht zu Angesicht zusammenkommen, um unsere Konflikte beizulegen.