Warum Österreich gerade in der Krise drei Staatsgewalten braucht

Von: Sabine Roßmann - Die Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative hat sich in vergangenen Krisen bewährt – Die faktische Ausschaltung von Staatsgewalten birgt Gefahren – Ein Plädoyer –

Bild_von_succo_auf_Pixabay
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„Es ist eine ewige Erfahrung, dass jeder Mensch, der Macht in Händen hat, geneigt ist, sie zu missbrauchen. Er geht soweit, bis er Schranken findet.“ Dieser Ausspruch des Philosophen Charles-Louis Baron de Montesquieu (1689 – 1755) bringt kurz und prägnant auf den Punkt, warum eine funktionierende Demokratie drei voneinander unabhängige, sich gegenseitig kontrollierende Staatsgewalten als tragende Säulen braucht. Unsere Bundesverfassung, die vor ziemlich genau einem Jahr anlässlich einer anderen Krise mehrmals ob ihrer „Eleganz und Schönheit“ gerühmt und von Bundespräsident Alexander Van der Bellen in der Neujahrsansprache vom 1. Jänner 2020 als „heller Fixstern“ in schwierigen Zeiten bezeichnet wurde, sieht im Bereich der Gewaltenteilung drei unverzichtbare Staatsgewalten vor: Die Legislative (Gesetzgebung durch Parlament und Landtage), die Exekutive (Bundespräsident, Bundesregierung und Verwaltung) und die Judikative (Gerichtsbarkeit).

Verordnete Zwangspause für Gerichte

Und so erstaunt es doch sehr, dass in der aktuellen Krise, der vermeintlich größten Krise seit dem zweiten Weltkrieg, auf die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den Staatsgewalten gerade in der schwierigsten Phase großzügig verzichtet wurde. Während nämlich die Legislative in atemberaubender Geschwindigkeit ein Gesetz nach dem anderen durchs Parlament gepeitscht hat, die Exekutive mit ihren Verordnungen und Erlässen wahrlich einzigartige Blüten getrieben und mittels polizeilicher Zwangsgewalt auch durchgesetzt hat, wurde die Judikative auf Notbetrieb heruntergefahren und faktisch zur Untätigkeit verdammt. Mit wenigen Ausnahmen besonderer Dringlichkeit (Haftsachen, Einstweilige Verfügungen, etc.) wurde den Gerichten eine Zwangspause verordnet. Und soweit die richterliche Tätigkeit nicht explizit untersagt wurde, wurde sie doch faktisch unmöglich gemacht, indem seitens der Justizverwaltung die den Gerichtsbetrieb aufrechterhaltenden Beamten kurzer Hand in ein – mit den gegebenen technischen Möglichkeiten der Justiz – nicht existentes Homeoffice geschickt wurden, vorübergehend gar die elektronische Poststraße für etwaige Zustellungen abgeschaltet wurde. Eine funktionierende unabhängige Gerichtsbarkeit sieht zweifellos anders aus.

Als Rechtfertigung für dieses faktische Ausschalten der dritten Staatsgewalt wurde – wie für alle anderen Maßnahmen dieser Tage – der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung bemüht. Ein wahres Totschlagargument und dabei wissen wir über dieses Bedrohungsszenario immer noch erschreckend wenig mit absoluter Gewissheit. Bezogen auf die Gerichte mögen jetzt viele meinen: „Ich brauch ja eh nichts vom Gericht. Was kann derzeit schon so dringend sein?“

Nun, glücklich all jene, die in der Phase rund um den Shutdown kein Gericht gebraucht haben. Aber ein paar demonstrative Beispiele können vielleicht verdeutlichen, was dieser Stillstand für andere Mitbürgerinnen und Mitbürger bedeutet haben mag:

Elisabeth L. hat eine zehnjährige Ehe hinter sich. Seit mehr als einem Jahr ringt sie mit ihrem Ehemann um die Scheidung. Der Ehe entstammen keine Kinder, doch Elisabeth L. hat von ihren Eltern ein Haus geerbt, das in den letzten fünf Ehejahren als Ehewohnung diente. Nur mühsam konnte sie ihrem Ehemann vermitteln, dass dieses Haus nicht Teil des gemeinsam geschaffenen Vermögens ist und er dementsprechend auch keinen Anspruch darauf hat. Eigentlich hätte die einvernehmliche Scheidung am 18. März 2020 über die Bühne gehen sollen, doch der Termin wurde aufgrund der Präventionsmaßnahmen im Zusammenhang mit Covid-19 auf unbestimmte Zeit verschoben. Nicht so schlimm? Immerhin geht es ja nur um ein paar Wochen, und was sind schon ein paar Wochen im Vergleich zu „Bis dass der Tod uns scheidet“? Grundsätzlich richtig. Sollte Elisabeth L. jedoch in diesen wenigen Wochen versterben, hätte das gewaltige Folgen, bleibt ihr (Noch-)Ehegatte doch bis zur Rechtskraft der Scheidung voll erbberechtigt oder – sofern sie ein Testament errichtet – doch zumindest pflichtteilsberechtigt. Die Konsequenz einer Erbschaft des ganzen oder auch nur halben Hauses ist angesichts der bereits vereinbarten Scheidung wohl eher nicht gewollt.

Werner B. ist 57 Jahre alt. Vor einigen Jahren hat er trotz seines Alters noch einen Job als Maler gefunden. Seine Frau ist zu Hause und hat kein eigenes Einkommen. Gleich zu Beginn des Shutdowns sprach der Arbeitgeber die Kündigung aus, zumal die Auftragslage schon vorher nicht rosig und weitere Auftragsausfälle erwartbar waren. Zwei wesentlich jüngere Kollegen ohne Familie wurden jedoch behalten. Werner B. will diese Kündigung wegen Sozialwidrigkeit anfechten. Natürlich konnte er auch während der akuten Krise eine Klage einbringen, aber diese blieb zunächst einmal unbearbeitet. Nicht einmal die Zustellung der Klage an den Verfahrensgegner (Arbeitgeber) konnte aufgrund der ursprünglichen Einschränkungen im Zustellverkehr erfolgen. Nach rund eineinhalb Monaten nahmen die Gerichte zwar die Verhandlungstätigkeit wieder auf, allerdings zunächst noch in eingeschränktem Umfang und bis Werner B. nun einen Verhandlungstermin bekommt, werden aufgrund des gewaltigen Rückstaus bei den Gerichten weitere Wochen, wenn nicht Monate vergehen. Ohne größere Ersparnisse könnten er und seine Frau noch vor dem Beginn einer Verhandlung zum Sozialfall werden.

Christina S. wurde Opfer einer Vergewaltigung. Da Aussage gegen Aussage steht, befindet sich der mutmaßliche Täter trotz bereits eingebrachter Anklage auf freiem Fuß. Sie möchte nur noch diese Aussage machen und dann endlich mit diesem traumatischen Erlebnis abschließen. Sie möchte sich endlich wieder sicher fühlen, wenn sie vor die Türe geht. Doch nach dem 16. März 2020 wurden bis auf weiteres alle Verfahren, in denen sich der Angeklagte nicht in Untersuchungshaft befand, abberaumt, auch in Verfahren wegen Sexualdelikten.

Arnold K. ist Handwerker und betreibt ein Kleinunternehmen. Einer seiner Kunden schuldet ihm aus einem größeren Auftrag noch aus der Zeit vor der Corona-Krise einen Werklohn, der aufgrund erheblicher Vorleistungen und Materialkosten für sein Unternehmen überlebenswichtig ist. Er hat sogar noch unmittelbar vor der Krise Klage eingebracht. Tatsächlich ist in seiner Sache aufgrund des Notbetriebs aber wochenlang nichts passiert. In der Zwischenzeit hat er weitere krisenbedingte Umsatzausfälle und die versprochenen staatlichen Hilfen lassen weiter auf sich warten. Innerhalb weniger Wochen wird sein Unternehmen insolvenzreif sein.

Diese (fiktiven) Beispiele ließen sich noch vielfältig fortsetzen, sollen aber nur aufzeigen, dass die Menschen in Zeiten egal welcher Krise nicht einfach aufhören zu existieren. Ihr Leben geht weiter, wenn auch unter anderen äußeren Umständen. Und dort, wo Menschen zusammenleben und miteinander in Beziehung stehen, braucht es arbeitende Gerichte, die man anrufen kann, um seine Ansprüche und Rechte geltend zu machen.

Rechte, egal welcher Natur, ob nun private oder subjektiv-öffentliche, sind eine großartige Sache, Rechte zu haben eine noch viel großartigere. Aber was sind Rechte wert, die nur am Papier in einem Gesetzbuch stehen? Nicht mehr als Buchstaben und Worte. Es braucht Gerichte, um Rechten Leben einzuhauchen, sie greifbar und durchsetzbar zu machen.

Demokratische Grundstrukturen verteidigen

Und so können wir in einer Krise vielleicht einmal vorübergehend aufs Shoppen verzichten oder auf den Umtrunk in der Kneipe um die Ecke, aber auf das Recht, ein Besuchsrecht für das eigene Kind einzufordern? Auf das Recht, das eigene Eigentum zu verteidigen? Auf das Recht, sich gegen Schädigungen durch andere zur Wehr zu setzen?  Das Recht auf Anrufung eines unabhängigen Gerichts zur Geltendmachung von Rechten ist nicht nur eine staatliche Serviceleistung in guten Zeiten, sondern Teil der gesellschaftlichen Basisversorgung eines jeden Staates und in diesem Sinne auch über Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützt und garantiert.

In dieser Krise war oft die Rede von „Systemrelevanz“ und der sogenannten „kritischen Infrastruktur“. Und so stellt sich die Frage: Was, wenn nicht eine in der Verfassung verankerte, grundrechtlich garantierte, staatstragende Säule sollte darunter zu verstehen sein? In diesem Sinne sollten wir uns alle klarmachen, dass ein Wanken demokratischer Grundstrukturen die Menschen dieses Landes weit mehr zu bedrohen vermag, als jedes Virus.