Von der (Nicht-)Existenz eines Grundrechts auf Gesundheit

Von: Akiko Kropfitsch und Sabine Roßmann - Zum Schutz des Lebens und der Gesundheit seiner Bürger ist der Staat auch berechtigt, in Grundrechte einzugreifen. Grundrechtseingriffe sind aber stets zu rechtfertigen. Solche Regelungen müssen zur Zielerreichung geeignet, erforderlich und adäquat sein. Damit stellt sich aber auch die Frage, anhand welcher Kriterien diese Erfordernisse überprüft werden.

Ihre rechtliche Grundlage haben die Grundrechte in Österreich in einer Vielzahl von Gesetzen und Vertragswerken, so etwa im Staatsgrundgesetz von 1867, im Bundes-Verfassungsgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention samt Zusatz­protokollen, um nur einige zu nennen.

Selbst bei umfassendem Studium aller potenziellen Quellen wird man aber nach einem Grundrecht auf Gesundheit, obwohl politisch und medial in der Pandemie immer wieder argumentativ bemüht, vergeblich suchen. Die körperliche Unversehrtheit wird in jeweils unterschiedlichem Ausmaß (zumindest mittelbar) durch Artikel 2, 3 und 8 EMRK geschützt. Ein Grundrecht auf Gesundheit gibt es tatsächlich nicht.

Aus Grundrechten abgeleitete staatliche Schutzpflichten – Die Grenzen einer Grauzone

Da der Verfassungsgerichtshof schon in der Vergangenheit aus dem Recht auf Leben auch eine staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der körperlichen Unversehrtheit abgeleitet hat, stellt sich die Frage, wie weit eine solche aus einem Grundrecht abgeleitete Schutzpflicht überhaupt gehen kann. Besonders prekär wird die Beurteilung dort, wo eine solche – juristisch zumindest in ihrer Reichweite nicht unumstrittene – Schutzpflicht für die Argumentation von Grundrechtseingriffen herangezogen wird, umso mehr wenn die Abwägung zwischen der körperlichen Unversehrtheit der einen gegen die der anderen ansteht.

Konkret auf die aktuelle Pandemiesituation angewendet bedeutet das, dass (Schutz-)Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 zwar (unter der Bedingung ihrer Verhältnismäßigkeit) Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen können, ihre Grenze aber dort finden, wo diese den Boden defensiver Gefahrenabwehr verlassen und zur Gefahr für andere werden. Der Schutz der Gesundheit des einen (oder einer bestimmten Risikogruppe) darf niemals die Gesundheit eines anderen (oder einer anderen Bevölkerungsgruppe) gefährden. Die aktuelle Situation auf den Kinder- und Jugendpsychiatrien spricht in dem Zusammenhang eine deutliche Sprache und wirft noch mehr als sonst die Frage der Verhältnismäßigkeit auf.

Zulässige Bewertungskriterien beim Gesundheitsschutz

Um die Rechtfertigung von Maßnahmen aller Art objektiv beurteilen zu können, bedarf es tauglicher Parameter, aus denen sich die abzuwehrende Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit ablesen lässt. Im Konkreten kommen dafür durchaus die Mortalitätsrate, die Zahl der schwer Erkrankten und der drohende Kollaps des Gesundheitssystems in Betracht, sind doch das Grundrecht auf Leben  und auch die staatliche Verantwortung für den Zugang zu medizinischer Versorgung völlig unbestritten. Voraussetzung sind allerdings valide und transparente Daten.

Die bloße Anzahl von (symptomlos) Infizierten/positiv Getesteten, die 7-Tage-Inzidenz, der Reproduktionsfaktor, die nicht (mehr) funktionierende Kontaktnachverfolgung und die Zahl der Geimpften sind hingegen bestenfalls Rechengrößen in einer Gleichung mit vielen Unbekannten, können aber niemals für sich allein Entscheidungsgrundlage für Grundrechtseingriffe sein. Besonders bedenklich sind jene Parameter, die von den Entscheidungsträgern (direkt oder indirekt) steuerbar sind. So hängt beispielsweise das Funktionieren des Contact Tracings doch vor allem davon ab, wie viele Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt werden. Auch sind positiv Getestete stets in Relation zur Anzahl der Tests zu setzen. Weiters beeinflusst die Qualität der Tests (Antigen oder/und PCR), die Verifizierung eines positiven Testergebnisses und die Auswahl der Testpersonen die von den Entscheidungsträgern zur Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe herangezogenen Parameter in maßgeblicher Weise.

Zu betonen ist an dieser Stelle - auch mit Blick auf die mittlerweile evidenten Kollateralschäden der Maßnahmen in Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Sport, Kunst und Kultur - dass die Beantwortung der Frage, ob (noch) zulässige Grundrechtseinschränkungen vorliegen, nicht nur virologisch-epidemiologische oder statistische Grundlagen erfordert, sondern einen offenen und interdisziplinären Diskurs, der der Vielzahl an betroffenen Lebensbereichen Rechnung trägt.

Die Rechtfertigungspflicht der Entscheidungsorgane

Entgegen der derzeitigen Praxis muss sich nicht der Bürger „freibeweisen“, um die ihm verfassungsrechtlich zugesicherten Grundrechte ausüben zu dürfen, sondern trifft den Staat eine umfassende „Nachweispflicht“ dafür, dass der Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist. Die Entscheidungsträger sind somit verpflichtet, die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Grundrechtsbeschränkungen entsprechend der bestehenden Beobachtungs- und Anpassungspflicht des Normgebers laufend zu evaluieren und zu begründen. In diesem Sinne hat der Verfassungsgerichtshof seit Juni 2020 bereits mehrfach mit Blick auf die erforderliche Nachprüfbarkeit die fehlende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen im Verordnungsakt beanstandet. Die Anforderungen an die Qualität der Begründung und ihre zeitgerechte Kommunikation steigen mit zunehmender Krisenerfahrung. Vorauseilende oder gar unbefristete Ermächtigungen für weitere Grundrechtseingriffe führen die dargestellte Rechtfertigungspflicht hingegen ad absurdum.

Einführung eines Eilverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof

Im Übrigen zeigt sich angesichts der Dynamik der Rechtssetzung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie, dass das bestehende Rechtsschutzinstrumentarium mitunter nicht ausreicht, um zeitgerecht eine gerichtliche Entscheidung über die Verfassungskonformität der vom Staat verfügten Grundrechtsbeschränkungen herbeizuführen. Die Initiative für Grund- und Freiheitsrechte befürwortet daher die Einführung eines Eilverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof, das dem Gerichtshof die Möglichkeit gibt, einstweilige Anordnungen zu erlassen, wenn der Rechtsschutz sonst möglicherweise zu spät käme.