Von: Mathis Fister - Das Recht muss klar sein und es muss auch klar und richtig kommuniziert werden. Die Rechtsklarheit ist ein verfassungsrechtliches und insbesondere grundrechtliches Gebot.
Die Bundesverfassung gebietet Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Besonders hoch sind die Anforderungen an die Klarheit des Rechts, wenn im Fall seiner Verletzung strafrechtliche Konsequenzen drohen (grundrechtliches „Klarheitsgebot“ gemäß Art 7 Europäische Menschenrechtskonvention). Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat es so formuliert: Vom Normadressaten muss die Abgrenzung des erlaubten vom unerlaubten Verhalten so eindeutig eingesehen werden können, „dass jeder berechtigte Zweifel des Normunterworfenen über den Inhalt seines pflichtgemäßen Verhaltens ausgeschlossen ist“ (siehe VfSlg 14.319/1995).
Unklares COVID-19-Recht
Die Corona-Pandemie war und ist eine Zeit mitunter erheblicher Rechtsunsicherheit. Dies liegt zunächst daran, dass die Maschinerie der Rechtssetzung auf vollen Touren läuft. In der ersten Zeit des „Lock-Downs“ erfolgten nahezu täglich Neuregelungen und Rechtsänderungen, und das in nahezu allen Bereichen der Rechtsordnung und auf allen Ebenen der Rechtssetzung (Verfassungsgesetze, Gesetze, Verordnungen, Erlässe etc), sodass es selbst für Juristinnen und Juristen schwer war, den Überblick zu bewahren. Aber auch die ständigen Rechtsänderungen in den Phasen der schrittweisen „Lockerungen“ der Maßnahmen verlangen größte Aufmerksamkeit von den Rechtsunterworfenen. Hinzu kommt, dass sich das COVID-19-Recht nicht immer durch Klarheit auszeichnet, und das nicht nur in Randbereichen, sondern auch in ganz zentralen, schlechthin jedermann betreffenden Fragen. Letzteres ist – bei allem notwendigen Verständnis für die gebotene Dringlichkeit – einer der Hauptkritikpunkte an der Rechtssetzung in der Pandemiezeit, vor allem in der ersten Phase.
Ein illustratives Beispiel bildet insoweit die vor allem zu Ostern 2020 diskutierte Frage, ob private Osterbesuche bei Verwandten und Freunden erlaubt oder verboten waren. Die Verordnung des Gesundheitsministers über die Ausgangsbeschränkungen (BGBl II 98/2020) war in diesem Punkt nicht klar; im Wege juristischer Auslegung hätten dort beide Sichtweisen „hineingelesen“ werden können. In den Pressekonferenzen der Bundesregierung wurde einigermaßen deutlich kommuniziert, dass Privatbesuche verboten waren. Die Vollzugspraxis folgte dem weitgehend und strafte bei Verstößen. Erst im Nachhinein hat die Bundesregierung ihre Aussagen abgeschwächt, bevor schließlich auch die Verwaltungsgerichte (zuerst) in Niederösterreich und Wien festgestellt haben, dass Privatbesuche nicht verboten waren (siehe LVwG NÖ 12.5.2020, LVwG-S-891/001-2020; VwG Wien 5.6.2020, VGW-031/047/5718/2020).
Und schließlich hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) im Erkenntnis vom 14.7.2020, V 363/2020, ausgesprochen, dass das allgemeine Betretungsverbot von öffentlichen Orten sogar schlechthin gesetzwidrig war (was allerdings nichts daran ändert, dass man sich zu Ostern 2020 an die damals in Kraft stehende Verordnung halten musste und vor den erwähnten Auslegungsproblemen stand).
Eine derart unklare Rechtslage ist nicht nur verfassungsrechtlich und grundrechtlich problematisch, sondern sie gefährdet auch den Erfolg der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, der maßgeblich davon abhängt, dass es eindeutige Gebote und Verbote gibt, die von jedermann einfach erfasst und befolgt werden können.
Kommunikation von Recht
§ 2 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) besagt seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1812: „Sobald ein Gesetz gehörig kund gemacht worden ist, kann sich niemand damit entschuldigen, daß ihm dasselbe nicht bekannt geworden sey.“ Mit anderen Worten: Die Rechtsunterworfenen haben das Recht zu kennen, Rechtsunkenntnis schützt vor Strafe nicht. Ausnahmen gibt es, sind aber selten.
So notwendig das Gebot der allgemeinen Rechtskenntnis ist (ein Rechtsstaat kann anders nicht funktionieren), so schwer ist es in der Praxis zu erfüllen, gerade in Zeiten eines schnell entstehenden und sich wieder verändernden COVID-19-Rechts. Theoretisch musste und muss man sich täglich (mitunter sogar mehrmals täglich) im Bundesgesetzblatt, in den Landesgesetzblättern und an allen anderen Kundmachungsstellen (zB an den Amtstafeln der Behörden) über die jeweils aktuelle Rechtslage informieren. Kaum jemand tut und schafft das. Und so werden die Pressekonferenzen der Bundesregierung und sonstiger staatlicher Stellen – inhaltlich rezipiert und weitervermittelt von den Medien – zu den hauptsächlichen Rechtsinformationsquellen, mitsamt aller Unschärfen im Vergleich mit den weitaus feiner differenzierten und technischer gestalteten Rechtstexten.
Fehlkommunikation von Recht
Problematisch wird dies spätestens dann, wenn der Inhalt des Rechts falsch kommuniziert wird. Im Ausgangspunkt ist hier nur klar, dass stets der objektive Inhalt des Rechts maßgeblich ist, nicht hingegen die von Behördenseite oder gar von politischer Seite gegebene subjektive Information über den Inhalt des Rechts. Man darf sich auf derartige Informationen also nicht verlassen und sich schon gar nicht sicher sein, dass das betreffende Rechtsverständnis später von den (Höchst-)Gerichten geteilt werden wird.
Gleichwohl ist die Fehlkommunikation von Recht nicht immer folgenlos, zumindest dann nicht, wenn die zur Anwendung des jeweiligen Rechts zuständige Behörde über dessen Inhalt informiert. Stellt die Behörde etwas als erlaubt dar, was in Wahrheit verboten ist, werden rechtliche, insbesondere strafrechtliche Sanktionen unter Berufung auf einen entschuldbaren Rechtsirrtum im Regelfall abwendbar sein (auch wenn das an den Tag gelegte Verhalten an sich rechtswidrig war und bleibt).
Schwieriger wird es, wenn die Behörde etwas als verboten darstellt, was in Wahrheit erlaubt ist. Dies ist zuvor anhand des Beispiels der Osterbesuche greifbar geworden: In diesem Fall wurde das Recht als strenger kommuniziert als es tatsächlich war. Von „fake laws“ war die Rede (vgl Meditz/Negwer, Fake Laws: Regierungswünsche als geltendes Recht hingestellt, DiePresse 2020/17/10). Nicht wenige Rechtsunterworfene werden dennoch – in Befolgung der Presseinformationen – von Osterbesuchen Abstand genommen haben. Gebührt ihnen eine Entschädigung, etwa ein Schadenersatz für die „entgangene Osterfreude“? Dafür wahrscheinlich nicht.
Amtshaftungsansprüche wegen unrichtiger Auskünfte staatlicher Stellen sind zwar denkbar, aber immaterielle Schäden (wie entgangene Osterfreude) sind grundsätzlich nicht ersatzfähig. In anderen Konstellationen hingegen können unrichtige Auskünfte, vor allem, wenn sie einen materiellen Schaden verursachen, sehr wohl amtshaftungsrechtliche Folgen nach sich ziehen (wobei sich im Einzelnen gewiss weitere Fragen stellen, wie etwa, ob der kommunizierte Inhalt des Rechts wenigstens noch als vertretbare Auslegungsvariante erscheint).
Ein Folgeproblem der Fehlkommunikation von Recht ist, dass auch die Vollziehung, etwa die Polizei, ihr Handeln daran ausrichtet. Nicht nur, dass die Spielräume der Polizei bei unklaren rechtlichen Grundlagen an sich schon zu groß sind (zumal in grundrechtssensiblen Bereichen), es droht eine weiträumige Fehlanwendung von Recht, wenn dessen Inhalt unrichtig vermittelt wird. Gewiss bietet die Rechtsordnung alle Möglichkeiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Aber effizient ist es gewiss nicht, wenn erst unzählige juristische Auseinandersetzungen geführt werden müssen, nur um das unklare COVID-19-Recht klarer zu machen. Wir haben einer Pandemiewelle zu begegnen; darauf muss nicht auch noch eine Prozesswelle folgen.
Lehren
Am Ende steht die Einsicht, dass das Recht auch in Krisenzeiten klar sein und auch klar und richtig kommuniziert werden muss, nicht nur im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben und insbesondere der Grundrechte, sondern auch im Sinne einer effektiven Krisenbewältigung: Unklares Recht ist weniger effektiv und schon gar nicht effizient. Bei der Rechtsklarheit muss beim nächsten Mal – etwa bei einer „zweiten Welle“ – vieles besser gemacht werden.