Von: Bernhard Fink – Der Staat darf Freiheitsrechte nicht willkürlich und nicht mehr als notwendig einschränken
Die Notwendigkeit der Abwägung von Freiheitsrechten ergibt sich aus dem Umstand, dass es mehr als ein Grundrecht gibt und keines grenzenlos gilt. Sie können miteinander kollidieren, und daher dürfen auch die meisten Grundrechte durch ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze eingeschränkt werden. Nicht nur, um vorhersehbare Kollisionen zu vermeiden, sondern auch, um verfassungsrechtlich legitimierte Ziele zu erreichen.
Der Abwägung des Rechts auf Leben (und der Gesundheit) einerseits gegen das Recht auf Freiheit andererseits vorgeschaltet ist jedenfalls die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des jeweiligen konkreten Eingriffs. Neben der verfassungsrechtlichen Legitimität des verfolgten Zwecks, muss die Erforderlichkeit für die Erreichung dieses Zwecks anhand von möglichen Alternativen, mit einer damit verbundenen weniger großen Eingriffsintensität geprüft werden. Der Staat darf Freiheitsrechte nicht willkürlich und nicht mehr als notwendig einschränken.
Corona macht Verhältnismäßigkeitsprüfung schwierig
Die COVID-19-Krise macht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung schwierig. Es geht dabei in der Tat nämlich nicht um den Schutz des Lebens im umfassenden Sinne, sondern um das Flachhalten der Kurve und um das Erreichen einer Reproduktionszahl von unter der Zahl eins. Damit soll sichergestellt werden, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert und deshalb weiter adäquat auf Herausforderungen reagieren kann, was gewiss ein beachtenswertes und verfassungsrechtlich legitimes Ziel darstellt. Gleichzeitig aber ist festzuhalten, dass es ein Grundrecht auf Gesundheit gar nicht gibt.
Das Recht auf Leben wiederum war seinerzeit als Abwehrrecht gegen den Staat konzipiert, weil dieser oftmals willkürlich mit Gewalt und Zwang in das Leben der Menschen eingriff. Aber seit es ein aufwendiges medizinisches Versorgungssystem gibt, stellt sich die Frage, was der Staat tun muss, um lebensgefährliche Krankheitsverläufe zu verhindern. Es gibt die Verpflichtung des Staates, Leben und Gesundheit zu schützen, und das nicht nur vor Angriffen des Staates, sondern auch in der Bereitstellung einer funktionierenden Gesundheitsversorgung. Diese aber steht unter dem Vorbehalt des Möglichen: Kein Staat kann seine gesamten Ressourcen nur in das Gesundheitssystem stecken.
Und damit kann gefragt werden: Wo verläuft die Grenze zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Krankheitsverläufen im Verhältnis zum enormen Umfang an Freiheitbeschränkungen und -verzichten? Dabei steht nicht das Recht auf Leben des einen dem Recht auf Leben des anderen gegenüber, sondern es geht um das Verhältnis zwischen Leben, Freiheit und weiteren wichtigen Grundrechten.
Es gibt gerade auch durch die einschneidenden Maßnahmen massive Gesundheitsschäden, ja es sind dadurch, wie durch das Virus, leider auch Tote zu beklagen. Wie verhält sich dieser „Kollateralschaden“ zum verfolgten Ziel? Es geht dabei auch um die Frage: Wie geht man mit einer unrichtigen Abwägung um, an deren Ende unter Umständen eine kollektive Kontaktsperre gilt, die die individuellen Freiheitsrechte minimiert, ja teilweise völlig aus der Verankerung hebelt (keine Besuche sterbender Angehöriger im Krankenhaus, für Gläubige keine Messe, keine Versammlungen, keine Erwerbsfreiheit, eine vielleicht verpflichtende Überwachungs-App und kaum sozialer Kontakt etc.)?
Durch eine Mischung von moralischer Einschüchterung und einer punktuellen Verabsolutierung des Gleichheitsgrundsatzes hat man den Einwand zurückgewiesen, es sei vielleicht besser, die Kontaktsperren auf Hochrisikogruppen zu beschränken, anstatt das gesamte Volk einzusperren.
Gleichheit und Gerechtigkeit verletzt
Allein der Gedanke daran wurde als „zynisch“ gebrandmarkt. Als würde es die Gerechtigkeit gebieten, Beschränkungen, die für den einen zweckmäßig und hilfreich sind, aus reiner Solidarität auf Alle auszudehnen. Dabei hat man Gleichheit und Gerechtigkeit nur behauptet, aber überall verletzt.
Man nehme zum Beispiel die Bestimmung der Verkaufsfläche, die es vorerst nur kleineren Betrieben erlaubte, der Erwerbsfreiheit nachzugehen. Wo war für die Unterscheidung die sachliche Rechtfertigung, wo die Gerechtigkeitsmaxime? Wie sieht es mit der Öffnung der Schulen zuerst nur für bestimmte Altersgruppen aus? Warum durften Religionsgemeinschaften nicht ihre Rituale und Gebräuche pflegen? Und warum wurde von der Politik anders kommuniziert als ministeriell verordnet? Aus der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes ergibt sich Willkür, die eines demokratischen Staates unwürdig ist. Willkür ist ein Instrument von Diktaturen, das dazu dient, die Bürger in stetiger Unsicherheit zu halten, nämlich vor allem auch darüber, ob die Verfassung gerade gilt oder nicht.