Erziehung durch Grundrechtseingriffe – Gesellschaft quo vadis?

Von: Christof Pollak - Die Initiative für Grund und Freiheitsrechte vermisst einen offenen und sachlichen öffentlichen und politischen Diskurs zu wesentlichen Fragen der Grundrechtseingriffe im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie. Dieser Diskurs kann weder über Anfechtungen von Gesetzen und Verordnungen noch über die bewusste Missachtung des Rechts geführt werden. Dabei ist es wesentlich zu betonen, dass es weder angeht, dass rechtswidrige Normsetzung in Kauf genommen wird, noch, dass solche Rechtsakte, wenngleich sie rechtswidrig sein mögen, bewusst missachtet werden. An geltende Rechtsvorschriften muss sich jeder halten, selbst wenn sie rechtswidrig sein sollten. Eine Bekämpfung ist nur mit rechtsstaatlichen Mitteln zulässig. Sachliche Kritik und ein offener demokratischer Diskurs darf und muss aber immer möglich sein.

Markus Distelrath auf Pixabay
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Epidemiologisch wirksame Vorschriften sind so alt wie Krankheiten als solche und finden sich bereits in der Bibel (3. Buch Mose, Levitikus). Wesentlichste Vorkehrung war dabei immer die Absonderung Kranker. Das wurde Jahrtausende so praktiziert, auch in Zeiten der Pest und Cholera.

Die Absonderung Kranker war und ist auch im österreichischen Epidemiegesetz, das seit mehr als 70 Jahren in Geltung ist, als Vorkehrung zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten, zum Schutz der Bevölkerung vor einer epidemiologischen Ausbreitung das erste Mittel der Wahl. Anhaltungen oder Verkehrsbeschränkungen für bloß krankheits- oder ansteckungsverdächtige Personen gab und gibt es nach unserem Epidemiegesetz nur, sofern „nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann“ (§ 7 Abs 1a Epidemiegesetz 1950, welches ursprünglich sogar noch aus der Monarchie stammt, vgl RGBl 67/1913).

Diese Regeln, welche für besonders gefährliche Krankheiten, wie beispielsweise Cholera, Kinderlähmung, Lepra, Masern, Pocken, Pest u. ä. konzipiert waren, wurden im Zuge der staatlichen Covid-19 Maßnahmen aber von zahlreichen, kaum mehr zu überblickenden Gesetzen und Verordnungen ergänzt. Seither müssen wir in unserer Gesellschaft mit nicht besonders gelinden Maßnahmen umgehen, die nicht nur Kranke und potentiell Kranke, also Infizierte absondern, sondern die auch gesunde Menschen in ihren Grundrechten und Freiheiten einschränken und eine ganze Gesellschaft in einem Lock-Down für Wochen zum Stillstand brachten und uns seither in fast allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen lähmen.

Wenn auch Anfang März 2020 aufgrund weltweit rasch steigender Fallzahlen das allgemeine Gefahrenpotential von Covid-19 als hoch eingestuft wurde, hat sich seit Ende März 2020 eine zunehmende Verflachung der statistischen Kurve der Zahl der Infizierten, Erkrankten, intensivmedizinisch Betreuten und Verstorbenen gezeigt. Nach den offiziellen Statistiken starben von 1.3.2020 bis 3.8.2020 in Österreich 700 Personen an oder mit Covid-19 (Quelle: Gesundheitsministerium/EMS, veröffentlicht auf www.orf.at/corona/daten). Dies erscheint auf den ersten Blick viel zu sein. Setzt man diese Zahl aber in Relation zur normalen statistischen Gesamtsterblichkeit in Österreich pro Jahr, so ergibt das ein anderes Bild. 2019, also im Jahr vor Covid-19, wurden insgesamt 83.386 Sterbefälle in Österreich verzeichnet (Quelle: Statistik Austria). Das waren umgelegt rund 6.948 Sterbefälle pro Monat. In den 5 Corona-Monaten März bis August 2020 starben in Österreich durchschnittlich 140 Personen. Das sind bezogen auf die statistisch erwartete Gesamtsterblichkeit rund 2 Prozent aller Sterbefälle. Die absolute Übersterblichkeit, das heißt ein über den Normalfall hinausgehendes Mehr an Todesfällen, betrug in diesen Monaten laut Statistik Austria kaum 1 Prozent.  Europäisch betrachtet gab es in einigen Ländern im Frühjahr 2020 zwar eine höhere Übersterblichkeit, als z.B. in den Grippewellen der Vorjahre, seit Mitte April 2020 aber ähnelt die Statistik auch hier den Vorjahren (www.euromomo.eu/graphs-and-maps/).

Todesrate und steigende Fallzahlen

Zu Beginn des Lock-Downs waren die beherrschenden Zahlenwerte: die Corona-bedingte Todesrate, Zahl der intensivmedizinisch Betreuten und die Reproduktionszahl. Aktuell scheint derzeit fast ausschließlich von steigenden Fallzahlen (getesteter Personen) die Rede zu sein, die neuerliche Maskenpflichten und Reiseverbote rechtfertigen würden. Dies erscheint merkwürdig. Es wird damit nämlich nicht mehr auf die ursprünglich als relevant erachteten Kernwerte, nämlich Todesrate und Belegung der Intensivstationen abgestellt. Wenn zu Beginn der einschneidendsten Maßnahmen, die Generationen erstmals hinnehmen mussten zentral damit argumentiert wurde, man müsse diese Maßnahmen deswegen unbedingt setzen, und zwar alternativlos, um den Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems hintanzuhalten, so wird durch das Abstellen auf steigende Infektionsraten ohne Blick auf die eigentlich relevanten Parameter nichts ausgesagt.

Nun, festgehalten werden kann, dass das Gesundheitssystem nicht zusammengebrochen ist. Es sind in Österreich keine tausenden Menschen mit oder an Covid-19 gestorben. Fakt ist, dass die Zahl der ernsthaft und intensivmedizinisch betreuten Erkrankten und an oder mit Covid-19 Verstorbenen seit Monaten kaum steigt. Waren es zum Höhepunkt der Pandemie 267 mit Corona-Patienten belegte Intensivbetten, so werden in Österreich mit Stichtag 8. August 2020 gerade 24 Menschen mit dem Coronavirus intensivmedizinisch betreut (https://orf.at/corona/stories/daten/).

Seit Beginn der Maßnahmen ist ein offener gesellschaftlicher Diskurs über die Zweck-Mittel-Relation der Einschränkungen unseres Wirtschafts- und Soziallebens zu vermissen. Zur Rettung des Wirtschaftslebens wurde bisher viel argumentiert. Doch wie sieht es mit unserem Sozialleben aus? Von Geburt an lebt ein Mensch nicht nur von Luft und Ernährung sondern auch hauptsächlich vom zwischenmenschlichen Kontakt.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein Kind das über kaum körperlichen Kontakt verfügt, schwere Defizite von sich trägt. Was seit März 2020 in unserer Gesellschaft passiert, ist ein zunehmendes Reduzieren und Beschneiden der zwischenmenschlichen Kontakte auf persönlicher und körperlicher Ebene. In der Phase des totalen Lock-Down wurde Social Distancing nicht nur zum scheinbaren Garanten für Gesundheit, sondern auch zu einem Unwort und zum Begriff für soziale Vereinsamung. Menschen durften sich nicht mehr sehen und auch nicht mehr berühren, geschweige denn umarmen. Der Kontakt von Großeltern zu Enkelkindern, zwischen Liebenden, die durch Grenzen staatlicher Natur getrennt waren, zwischen Freunden und Verwandten wurde von einem Tag auf den anderen faktisch beendet. Es herrschte große Unsicherheit, was überhaupt erlaubt oder gesundheitlich gefährlich war. Die gemeinsame Religionsausübung als moralische Stütze wurde schlichtweg zur Gänze verhindert. Stattdessen forderten die Regierenden von ihren Bürgern ein Sozialverhalten ein, dass vieles Menschliches, Persönliches, Unmittelbares, vor allem aber jede Nähe und Körperlichkeit hintanhalten sollte. Die Gesellschaft hat daraus verschiedenste und unterschiedliche Lehren gezogen. Sie ist nun – nach 5 Monaten – aber merklich gespalten. Einerseits sind viele Menschen durch Sorge um Gesundheit und Leben so verängstigt, dass ihnen kein staatliches Mittel stark genug zu sein scheint, um den vermeintlichen Schutz vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus oder anderen gefährlichen Krankheiten zu gewährleisten. Anderseits streben immer mehr Menschen nach Aufklärung und Freiheit und sehen die gesellschaftliche Einschränkung durch die Maßnahmen der Regierungen als zentrale Bedrohung des Menschseins. Zwischen den Polen herrscht eine große Kluft. Wechselseitiges Unverständnis und Denunziationen sind an der Tagesordnung. Dies alles vor dem Hintergrund von für den Einzelnen unüberblickbaren und schwer verständlichen Gesetzen, Erlässen und Verordnungen. Der Rechtsunsicherheit der Menschen kann auch durch eine zwischenzeitige klarstellende Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nicht wirksam begegnet werden, weil neue Regelungen, wie z.B. die örtlich und zeitlich begrenzt wiedereingeführte Maskenpflicht, nicht wesentlich verständlicher oder nachvollziehbarer sind.

Die Geschichte lehrt uns, dass es diese Polarisierung auch schon in Zeiten früherer Epidemien gab (vgl. Pest & Co.: Was wir aus der Geschichte lernen können, Ö1-Podcast, https://oe1.orf.at). Wenn aber Covid-19 zum Anlass für in der Epidemie-Geschichte noch nie dagewesene Einschränkungen genommen wurde, müssen wir uns gesamtgesellschaftlich auch vorausblickend die Frage stellen, welches Bedrohungsszenario für unser künftiges Zusammenleben wirklich nachhaltig real ist. Möglicherweise haben wir aus Angst und Sorge um uns und unsere Nächsten völlig vergessen, was es eigentlich ausmacht, Mensch zu sein. Es war der Menschheit noch nie möglich, ganz ohne sich rasant ausbreitende potentiell todbringende Viren und Bakterien existieren zu können. Es gab immer Epidemien und Pandemien. Aus welchem Grund gerade Covid-19 angesichts mittlerweile vorhandener realer Zahlen noch immer als Ausnahme zu allen Epidemien der Vergangenheit betrachtet wird, die es rechtfertigt, die Rechte und Freiheiten der Menschen derart und – mittlerweile dauerhaft – einzuschränken, ist angesichts der Zahlen nicht ersichtlich. Aus ethischen und moralischen Überlegungen erscheint es absurd und undenkbar, dass die Menschheit sich durch egal welche Krankheit und egal welche Kriege, egal welche politischen Verhältnisse, egal welche sozialen Gegebenheiten so stark einschränken lässt, dass menschliche und auch physische Nähe an sich aufhört. In der Menschheitsgeschichte gab es stets verheerende Kriege, totalitäre und massenvernichtende Regimes, grauenvolle todbringende Seuchen und Pandemien und die Menschheit hat dennoch überlebt. Zu allen Zeiten wurden nämlich Sozialkontakte gepflegt, die zu Ehen und Schwangerschaften führten und die Menschheit hat sich fortgepflanzt. Niemals zuvor hat es aber eine Absonderung gesunder Menschen gegeben (auch keine Babyelefanten in unseren Breiten). Nie zuvor gab es einen totalen oder partiellen Lock-Down einer ganzen Gesellschaft. Nie zuvor mussten schlechthin alle Menschen ihr Antlitz verbergen und durften sich nicht nahekommen, sich berühren oder umarmen. Selbst wenn derartig weitreichende Einschränkungen nicht mehr bestehen und unter Umständen auch zu keinem Zeitpunkt auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage gestanden sein sollten, ist dennoch so viel davon in unserer Lebensrealität übriggeblieben, dass Menschen mit Zurechtweisungen und Anzeigen rechnen müssen, wenn sie sich öffentlich nahekommen. Daher sollten wir uns als Menschheit, als Gesellschaft, die Frage stellen, ob wir uns unser Leben, unsere Lebensfreude, den Grund und den Zweck unseres Daseins, nämlich die soziale Interaktion und das familiäre und gesellschaftliche Miteinander tatsächlich auf Dauer nehmen lassen sollten.

Die Initiative für Grund- und Freiheitsrechte stellt an dieser Stelle unmissverständlich klar, dass für keine Verharmlosung des Coronavirus eingetreten wird, sondern für ein faktenbasiertes und die Grenzen der Verhältnismäßigkeit bei Grundrechtseingriffen wahrendes Vorgehen, welches aber eben mit der evidenzbasierten Einstufung des konkreten Bedrohungspotentials einherzugehen hat.

Wenn Politiker vermeinen, sie hätten einen Auftrag zum Schutz der Menschen, sollten sie sich fragen, ob dieses Mandat wirklich die Maßnahmen trägt, die beschlossen und umgesetzt wurden oder noch werden. Nichts tun geht nicht, das ist keine Alternative. Aber aus Unsicherheit eine Gesellschaft in die Unmenschlichkeit zu führen, ist eindeutig der falsche Weg. Der Staat ist kein Versicherungsunternehmen. Es gibt keine Vollkaskoversicherung gegen das Lebensrisiko.

In rechtlicher Hinsicht ist ganz klar festzustellen: Grundrechtseingriffe sind nur erlaubt, wenn sie unbedingt nötig sind und müssen aufhören (und zwar restlos), wenn dieser Grund wegfällt. Wohl sind aus berechtigtem Anlass für eine gewisse Zeit auch Vorsichtsmaßnahmen erlaubt. Aber seit längerem überwiegt nun die statistische Sicherheit, dass die anfänglich befürchtete Gefährlichkeit von Covid-19 nicht in dem angenommenen Ausmaß gegeben ist. Wir haben längst kein Szenario, dass es rechtfertigen würde, vom selbst in Zeiten der Pest und Cholera erfolgreichen Regime des Absonderns kranker Personen abzugehen und gesunde Menschen weiterhin einzuschränken. Die Erziehung mündiger Bürger durch freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu einem menschenunwürdigen Verhalten ist aus grundrechtlicher Sicht jedenfalls unstatthaft. Wer seine Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren (Benjamin Franklin).