Von: Gerhard Baumgartner - Der Staat ist auch in Krisenzeiten dafür verantwortlich, die Zugänglichkeit von Bildung zu gewährleisten und deren Qualität zu sichern.
Die staatlichen Reaktionen auf die Bedrohung durch COVID-19 führten zu weitreichenden Einschränkungen des Schul- und Universitätsbetriebs. Von diesen Einschränkungen sind nicht nur Schüler und Studierende sowie die Lehrenden betroffen, sondern – vor allem bei jüngeren Kindern – auch die Eltern. Dabei dürften die Auswirkungen für die Betroffenen im Einzelfall recht unterschiedlich sein. Vielfach wurde seitens der Schulen versucht, den persönlichen Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern trotz der schwierigen Rahmenbedingungen aufrecht zu erhalten und ansprechende alternative Unterrichtsformen (distance learning, e-learning) zu entwickeln. Es wird aber auch berichtet, dass Schülern über Wochen hinweg lediglich schriftliche Aufgaben zur Verfügung gestellt wurden; persönliche Ansprache, regelmäßige Motivation durch die Lehrkraft und Unterricht fielen im Wesentlichen ersatzlos aus. Die Lerninhalte mussten somit von den Kindern mit Unterstützung der Eltern, die womöglich „nebenbei“ Vollzeit im Homeoffice oder außer Haus arbeiteten, eigenständig erarbeitet werden.
Nun soll an dieser Stelle nicht die Frage erörtert werden, ob die Schließung von Schulen und Universitäten gerechtfertigt war – dafür gab und gibt es triftige gesundheitspolitische Gründe. Es ist auch außer Streit zu stellen, dass die Bewältigung dieser außergewöhnlichen Situation für alle involvierten Personen eine besondere Herausforderung war, die naturgemäß der eine besser, der andere weniger gut zu meistern vermochte. Gleichwohl bleibt die Frage, ob und in welchem Umfang der Staat die Verantwortung dafür trägt, dass auch unter solch schwierigen Rahmenbedingungen bestimmte Bildungs- und Unterrichtsstandards nach Möglichkeit aufrechterhalten werden, sei es auch in alternativer Form. Oder ist es tatsächlich zulässig, dass für einen längeren Zeitraum die Verantwortung für Bildung und Unterricht weitgehend auf die Kinder und Jugendlichen bzw. deren Eltern abgewälzt wird?
Zu erinnern ist an dieser Stelle zunächst an Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Dort heißt es: „Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden.“ Daraus folgt ein Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu den in einem Staat vorhandenen Bildungseinrichtungen. Beschränkungen dieses Rechts sind zwar zulässig, sie müssen aber insbesondere verhältnismäßig sein. Das Recht auf Bildung umfasst nicht bloß die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern geht darüber hinaus. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte versteht darunter den gesamten Prozess der Vermittlung von Glauben, Kultur und anderen Werten von den Erwachsenen an die Kinder. Nach der Judikatur zählt Bildung zu den wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen eines modernen Staates, wobei sowohl auf deren Bedeutung für den
Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganzes hingewiesen wird. In Anlehnung an Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgt auch die Europäische Grundrechtecharta ein Recht auf Bildung, wobei die grundrechtliche Gewährleistung auf den Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung ausgedehnt wird (Artikel 14 Absatz 1). Weiters ist zu beachten, dass schon das Staatsgrundgesetz 1867 (Artikel 17 Absatz 5) die staatliche Unterrichtshoheit festschreibt. In der Rechtswissenschaft wird daraus abgeleitet, dass der Staat eine Verantwortung für Erziehung und Bildung trage, die nicht nur die Bereitstellung öffentlicher Bildungseinrichtungen und die Gewährleistung ihrer Zugänglichkeit umfasst, sondern sich auch auf die Sicherung der Einheit und Qualität der Bildung bezieht.
Der zuletzt angesprochene Aspekt findet sich auch in jener Bestimmung der österreichischen Bundesverfassung (Artikel 14 Absatz 5a B‑VG), die verlangt, dass die Schule auf der Basis bestimmter Grundwerte „der gesamten Bevölkerung […] unter steter Sicherung und Weiterentwicklung bestmöglicher Qualität ein höchstmögliches Bildungsniveau sichert. Im partnerschaftlichen Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen“.
In der Zusammenschau der genannten grund- bzw. verfassungsrechtlichen Regelungen ergibt sich eine ausgeprägte staatliche Verantwortung für die Bildung der Kinder, wobei dieser Begriff in einem weiten Sinn zu verstehen ist. Kurz gesagt: Bildung ist sehr viel mehr als die Bereitstellung von Wissen! Auch Schule muss daher sehr viel mehr sein als die Vermittlung theoretischer Kenntnisse und intellektueller Fähigkeiten.
Auch wenn man anerkennt, dass es zum Schutz der Bevölkerung notwendig, ja unabdingbar war, die Schulen zu schließen und diese nunmehr nur schrittweise und eingeschränkt wieder zu öffnen, entbindet das nicht von der Verpflichtung, den Zugang zu qualitätsvoller Bildung sicherzustellen. Denn ein Aussetzen des Präsenzunterrichts zwingt angesichts der vielfältigen Möglichkeiten digitaler Kommunikation keineswegs zur Absage des gesamten staatlichen Bildungsangebots. Schule kann – zumindest für einen begrenzten Zeitraum – auch aus der Ferne gelingen. Sie muss aber, auch in der Krise und über die Distanz, sehr viel mehr sein, als das Verteilen von Arbeitsblättern an Kinder, die in einer solchen Zeit vor allem Zuspruch, Motivation und Erklärung brauchen. Dass dies nicht immer gewährleistet war, ist bedauerlich und sollte Ansporn dafür sein, für die Zukunft ein überzeugendes Unterrichtskonzept für derartige Ausnahmesituationen zu entwickeln – auch wenn wir alle hoffen, dass sein Einsatz nicht notwendig wird.